Alpines Grauen – Krimi Erster Teil – Panoramabilder – von Daniel Grosse

 Alpines Grauen – Krimi Erster Teil – Panoramabilder – von Daniel Grosse

 

von Daniel Grosse, Marburg

 

 

Dicke Augenringe umrahmten das, was er so an sich schätzte: diese blauen, durchdringenden Augen. Hätte Martin an diesem Morgen, beim Blick in den Spiegel gewusst, was er dank seiner Augen in den kommenden Wochen erleben würde – er hätte sich gewünscht, dass die Augenringe noch dicker gewesen wären. Zu dick. So dick, dass kein Bild mehr seinen Sehnerv erreicht hätte. Erst recht kein monströses.

 

 

Langweilig war es zunächst an diesem Morgen – einem Sonntag. Ein Tag, an dem Martin frei war und sich nichts vorgenommen hatte. Aber er brauchte sie, diese Vorstellung, irgendetwas Verrücktes zu machen. Trotzdem: Keine Pläne am Sonntag! Vom Vorabend hatte Martin noch einen dicken Kopf. Bleiern war seine Sprache. Beim Blick in den Spiegel erschrak er. Das waren mindestens drei Bier zu viel gestern Abend in der Kneipe.

 

 

In seinem miserablen Zustand und ohne Pläne für den Tag legte sich Martin wieder ins Bett. Die Fernbedienung lag auf dem Nachttisch. Zum Lesen hatte er keine Lust. Die Privaten zeigten nur aufgewärmten Kram. Irgendwelche Serien, die kein Mensch sehen wollte. Offensichtlich sahen die Senderchefs das anders. Martin gehörte zu dieser Gruppe „Kein Mensch“. Das war an diesem Morgen sein Verhängnis. Denn bei den Öffentlich-Rechtlichen blieb er hängen.

 

 

Wunderbare Bergwelten taten sich vor ihm auf. In seinem Fernseher sah Martin, der gerade in seiner Hamburger Flachland-Wohnung gemütlich im Bett lag, wie sich Zwei-, Drei- und Viertausender imposant auftürmten. Berge, die mit blütenweißem Schnee bedeckt waren. Dazu spielte Musik. Die Redaktion hatte sich für Alpenländisches entschieden. Ziehharmonika und leises Jodeln untermalten die Alpenpanoramas.

 

 

In seiner eigenen Redaktion galt Martin als Sportmuffel, Wandern, ja, vielleicht das. Und ab und zu Skifahren. Das war`s. Eines war aber klar: Die Berge faszinierten den Journalisten. Deshalb genoss er, wie die fest installierten Bergkameras schon um 8 Uhr morgens Bergketten aus Hintertux oder Gerlos ins Wohnzimmer transportierten. Martin ließ sich auf den alpinen Zauber ein. Hätte er es besser nicht getan.

 

 

Sara wollte an diesem Morgen anrufen. Martin wünschte sich, dass sie es endlich tut, dass das Telefon klingelt. Martin liebte Sara. Es waren nicht nur ihre Intelligenz, ihr Lächeln, ihr wunderbarer Hintern, die Martin bei jedem Treffen mit Sara in einen Taumel der Glückseligkeit trieben – Sara war einfach wunderbar. Ein Gesamtkunstwerk. Wunderbar, so wie diese Gipfelketten, die er gerade betrachtete: erhaben, rein und unsagbar schön, gleichsam dominant und unheimlich. Und eine dieser Gipfelketten, die in Hintertux, war an diesem Morgen anders. Seltsames geschah dort.

 

 

Schlimm genug, dass Sara nicht anrief, jetzt schien auch noch der Fernseher seinen Geist aufzugeben. Martins Sonntag geriet chaotisch und furchtbar traurig zu werden. Das Bild flimmerte, Streifen durchzogen das Fernsehbild. Dann leuchtete ein roter Punkt auf dem Fernsehbild. Ein Punkt, der keiner war. Jemand in einer knallroten Jacke stand neben einem Lift, den die Bergkamera aus Hintertux übertrug. 8.30 Uhr. Schwenk. Fünf Sekunden später stand eine zweite Person direkt neben dem Träger der roten Jacke. Schwenk. Fünf Sekunden später. Der eine schleifte, zog den rot Gekleideten durch den Schnee. Als die Kamera abermals den Lift zeigte, sah Martin nur einen laufenden Lift, Schnee und die wunderschönen Berge. Aber keine Menschenseele. Wie ausgestorben. …

 

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