Der mutige Nick – Mit einem Zwölfjährigen im Hamburg Dungeon – Grusel in der Speicherstadt

Nick schreit. Er ist erst zwölf, und er steht im Fahrstuhl des Grauens, der ihn gleich in die Tiefen des  Hamburg Dungeon bringen wird. Die Tür schließt sich. Nur einer ist bei ihm, Wolfgang, der Fahrstuhlführer. Bleiches Gesicht, lange, graue Haare, die Stimme ächzt, „pass auf, dass du da unten nie als letzter hinterher läufst, sonst kommen schreckliche Dinge auf dich zu“. Erst dann drückt Wolfgang den Knopf, damit die Tür wieder aufgeht. Fünfzehn Besucher treten ein. Nick atmet durch. Jetzt könnte er noch raus. Doch er bleibt. Der Aufzug rattert in den Keller.

Liebe Marbacher, wer es schafft, sollte dieses Jahr unbedingt das Hamburg Dungeon in der Speicherstadt besuchen. So wie damals Nick, der Held dieser Reportage, die ich vor zehn Jahren als Volontär geschrieben hatte.

„Ich glaub, ich grusel mich nicht so doll. Alleine hätte ich aber schon Angst“, hatte Nick vorher gesagt, zehn Minuten bevor die Zeitreise in die dunkle Geschichte Hamburgs für ihn beginnt. Noch kennt er auch Wolfgang nicht. Wolfgang, den Fahrstuhlführer. Nick hat große, wache Augen. Er lächelt. Seine dunklen Haare fallen ihm frech über die Stirn. Den Kragen seiner Jacke hat er hochgeklappt. Nick geht schnell. Nur noch um eine Hausecke, dann ist er endlich da. Als er zwölf wurde, hatte ihm seine Mutter einen Besuch im Dungeon versprochen. Und heute wird er ihn sehen, diesen Kerker. Aus dem Erdkundeunterricht weiß Nick einiges über das große Feuer von 1842. Darüber, dass der Brand ein Viertel der Stadt zerstörte. Und Nick weiß von der Sturmflut, die Weihnachten 1717 Norddeutschland überschwemmte. Tausende Menschen starben damals. Beides wird Nick gleich im Hamburg Dungeon in der Speicherstadt erleben, nacherleben. Inquisition, Pestkrankenhaus und der kopflose Pirat Störtebeker – drei weitere Stationen des Rundganges durch das Dungeon. Durch eine Kulisse aus Plastik, Holz, Licht, Geräuschen, Wasser und Rauch.

Schwarze Würfel stehen auf dem Boden. „Bloß nicht hinsetzen“, sagt Nick. Zu gefährlich. Hier kann er sich nicht vorher ausmalen, was passiert, wenn er es doch tut. Vielleicht kommt eine Hand von hinten. Und er hat Wolfgang kennen gelernt, den Fahrstuhlführer. Nick ist vorsichtig. Er und die fünfzehn anderen aus seiner Besuchergruppe stehen in einem dunklen Raum. Unter der Decke schaltet sich ein Bildschirm ein. Er zeigt das brennende Hamburg. Himmelfahrtstag 1842. Menschen fliehen. Feuerwehrleute versuchen zu löschen. Weißer Qualm dringt auch in den dunklen Raum, hier unten im Dungeon. Nick und die anderen sehen den Monitor, sie erfahren vom Sprecher, dass Nachtwächter den Brand zuerst bemerkten und dass die Flammen sich vier Tage lang durch Hamburgs Altstadt fraßen. Über Stunden pumpten die Feuerwehrleute aus den Kanälen damals kein Wasser, sondern spritzten versehentlich Schnaps ins Feuer. Den hatten die Menschen zuvor in die Kanäle geschüttet. 350 Schapsfässer in einem Warenlager sollten das Feuer nicht noch zusätzlich anheizen. Wegen der Ebbe floss der Alkohol aber nicht ab.

Dreiundzwanzig Schauspieler arbeiteten 2005 im Hamburg Dungeon. Heute, zehn Jahre später, beschäftigt das Dungeon in der Hauptsaison etwa 100 Mitarbeiter. Darunter 50 festangestellte Schauspieler. Grusel pur auf inzwischen 3.000 Quadratmetern. Den Machern war und ist es wichtig, dass die Schauspieler improvisieren. Sie sollen die Besucher in die Geschichte einbeziehen. Wenn der Großinquisitor in die Besuchergruppe zeigt, wird der Auserwählte Teil des Schauspiels. Wie heißt du? Sven. Woher kommst du? Aus Niedersachsen. Wie viele Frauen hattest du in den vergangenen Monaten? Es war nur eine. Nein! Hier steht, du hattest 196 Frauen und zwei Schafe. Das ist Vielweiberei und Unzucht mit Kleinvieh! Die Schauspieler im Dungeon fordern die Besucher. Verstecken kann sich keiner, das ist gewollt. Das freie Spiel ist hier ganz wichtig.

Nick, der Besucher, ist zwar Teil dieses Spiels, ist ihm ausgeliefert, aber er hat seine Gruppe. Die braucht er. Dicht hinter seinem Vordermann geht er, will aber auch nicht der letzte sein. Denn davor hat Wolfgang ächzend und eindringlich gewarnt. Wolfgang, der Fahrstuhlführer. Aus sechzehn werden sechsundsechzig Besucher, hier unten im Labyrinth der Verlorenen. Siebenundzwanzig Spiegel. Gänge, die ins Unendliche führen. „Ich habe Schiss“, flüstert Nick und blickt hinter sich. Wie ein Bandwurm schlängelt sich die Besuchergruppe durch die Spiegelgänge. Hoffnung? Nein. Der Bandwurm läuft im Kreis. Eine Tür öffnet sich. Frei. Und auch gefangen: im Pestkrankenhaus.

Ein Toter liegt auf einem Tisch, ein zerschundener Körper. Mit Pestbeulen am Leib und zerfressenen Gliedern. Eine alte Frau steht hinter dem Toten. Sie erzählt vom Hamburg des vierzehnten Jahrhunderts, sticht dabei mit einer Schere in eine Pestbeule und infektiöser Eiter trifft einen Besucher. Ihm, sagt die Frau, werde es wie damals tausenden in Hamburg ergehen. Er werde dahin siechen. Sechstausend Menschen verschlang die Seuche im Sommer 1350, die Hälfte der Einwohner der Stadt. Die einen bekamen Geschwülste an Armen, Beinen und am Hals, so groß wie Orangen. Anderen Pestkranken färbte die Seuche die Haut mit dunklen Flecken. Bis sie starben. 25 Millionen waren es in ganz Europa. Still und mit großen Augen lauscht Nick dem Vortrag der Alten.

Viele waren schon im Hamburg Dungeon. Im November 2004 kam der millionste Besucher, seit der Eröffnung im Mai 2000. An Wochenenden waren es schon vor zehn Jahren manchmal bis zu 1300 am Tag, die sich durch die Gänge quälen, die riechen, dass sie von Raum zu Raum in andere Zeiten eintauchen. Gerüche sind Teil der Inszenierung. Duftlampen und -kerzen verteilen Moder- und Rauchgeruch im Dungeon. Schauspieler, Techniker, Maskenbildner – sie schaffen eine düstere Welt der Illusion.

Nick hat sie an diesem Nachmittag gesehen. Er hat durchgehalten. Und das mit zwölf. Keiner in seiner Besuchergruppe war jünger. Nach dem Rundgang sitzt er im Restaurant des Dungeon an einem Holztisch. Mit großen, wachen Augen schaut er auf einen Bildschirm in der Ecke des Raumes. Eine Gruppe Menschen schlängelt sich wie ein Bandwurm. „Da waren wir auch. Die anderen haben uns von hier aus auch gesehen.“ Dass die Besucher den Schauspielern Fragen beantworten mussten, das findet Nick gut. Und auch, dass sich seine Gruppe für Störtebekers Befreiung einen Schlachtruf ausdenken sollte. Der Nachmittag mit einem Wort beschrieben? „Aufregend“, sagt Nick und grinst. Aber alleine durch die Gänge gehen, ohne einen Erwachsenen in der Nähe? Wie vor zwei Stunden ist Nick immer noch skeptisch: „Das müsste ich mir überlegen. Mich hatte Wolfgang auf dem Kieker.“ Wolfgang mit der ächzenden Stimme.

Nicks Mutter ist ins Dungeon Restaurant gekommen, ihren Sohn abholen. Auch mal ins Dungeon? Nein! Zu gruselig. Später will er ihr alles erzählen, sagt Nick. Er füllt einen Zettel aus, oben drüber steht: Besucherumfrage Schauspiel. Bei „Grüße an die Schaupieler“ trägt Nick, der Zwölfjährige, ein: „Wolfgang, vor dir hatte ich Angst!“

Das Hamburg Dungeon

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