In diesem Blog soll es um Lokales, um Marbacher Themen, gehen. Manchmal müssen hier aber auch Beiträge erscheinen, die so gar nichts mit der Marbach zu tun haben, aber sich fast jeder Marbacher Leser angesprochen fühlen müsste. Und wir haben mit den Behringwerken und seinen international aktiven Unternehmen gleichzeitig immerhin tausende Mitarbeiter vor Ort. Die machen eben eines ständig: E-Mails lesen – oder eben nicht.
Deshalb ist es schon spannend, was Ernst Holzmann auf seinem Blog und in der Gruppe „Arbeit. Zeit. Leben.“ im Business-Netzwerk Xing damit meint, wenn er schreibt: „Übrigens: Ich lese keine emails!“
Für das Erscheinen des Beitrags auf Marbach direkt hat Holzmann sein Okay gegeben. Der Beitrag:
Ernst Holzmann: „Übrigens: Ich lese keine emails!“ Kaum hatte ich diesen Satz ausgesprochen, wurde es mucksmäuschenstill im Raum. In den Augen der Anwesenden sah ich ungläubiges Staunen, in manchen sogar fassungsloses Entsetzen. Am Ende meiner kurzen Vorstellung am ersten Arbeitstag bei meinem neuen Arbeitgeber.
Schon als ich am frühen Morgen weit vor den anderen eintraf, spürte ich, was los war. Schmale Flure, mit grauen, undurchsichtigen Türen als Zugang zu kleinen Büroräumen. Meine neue „Heimat“, mein Büro am Beginn des Flurs, mit einer starken Metalltür ausgestattet, offiziell nur durch ein entsprechendes Vorzimmer zu erreichen. Und dieses natürlich auch „bewacht“ durch eine entsprechende Dame, meine zukünftige Assistentin.
Bei den Vorstellungsgesprächen vor ein paar Wochen gab man mir zu verstehen, was meine Aufgabe beinhaltete. Den Geschäftsrückgang stoppen, neue Geschäftsfelder erschliessen und die Kundenzufriedenheit verbessern. Auch die Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen, Distributoren und Händlern schien im Argen zu liegen. Natürlich sollte auch die Produktivität meines neuen Bereiches deutlich gesteigert werden, die präsentierten Ergebnisse zur Mitarbeiterzufriedenheit liessen entsprechendes Potential erkennen. So wurde meine Aufgabe auch in einem internen Rundschreiben angekündigt und entsprechend war auch das erste Meeting mit meinem neuen, bunt gemischten Team. Junge Mitarbeiter/innen, gerade frisch nach dem Universitätsabschluss eingestellt, aber in der Mehrzahl „alte Hasen“, darunter auch drei Führungskräfte.
Die alle schon mit dem Schlimmsten gerechnet hatten, auch mit der direkten Aushändigung ihrer Kündigung. Aber dass jemand keine emails liest, das konnten sie sich wohl überhaupt nicht vorstellen. Ich wiederholte deswegen noch einmal meinen letzten Satz: Ja, ich lese keine emails, aber ich bin immer für sie zu erreichen. Tag und Nacht, sieben Tage die Woche. Wann immer sie mich brauchen, sprechen sie mich an. Kommen sie in mein Büro, die Türe steht ab sofort immer für sie offen. Apropos Türe: Die bisherige wird gegen eine Glastür ausgetauscht, der Investitionsantrag ist schon unterwegs. Genauso, wie der für den Austausch der anderen Bürotüren hier auf dem Flur. Wenn ich nicht im Büro bin und sie mich brauchen sollten, rufen sie mich einfach an, meine Handy-Nr. steht ja auf meiner Visitenkarte, die ich ihnen vorher gegeben habe.
Um zu unterstreichen, dass ich keine emails lesen konnte, holte ich meinen „Knochen“ aus der Tasche und hielt ihn stolz in die Höhe. Mein Nokia 6310, immer noch in Original-Ausführung, zwar mit ähnlichen Dellen wie sein Besitzer, aber immer noch genauso zuverlässig, unverwüstlich und Alltagstauglich, wie dieser. Jetzt war die Verblüffung komplett, jetzt hatte es auch der/die Allerletzte verstanden: Der Typ kann tatsächlich keine emails lesen, wie denn auch?
Gibt es noch Fragen, die wir besprechen und klären sollten? Nachdem es (wie erwartet) darauf keine Antwort gab, stellte ich den Fahrplan für die nächsten Tage vor. Ich möchte so schnell wie möglich unseren Markt und unsere wichtigsten Kunden kennenlernen. Damit wir keine Zeit verlieren, fangen wir gleich morgen damit an. Dazu bitte ich die Aussendienst-Mitarbeiter um Abstimmung, bei wem ich schon morgen mit zu Kundengesprächen fahren kann und wie wir das dann in Zukunft regeln. Wenn sie so weit sind, bitte einfach bei mir vorbeikommen, damit wir die entsprechenden Details regeln können.
Die nächsten Tage möchte ich dann auch mit jedem von ihnen in Ruhe besprechen, wie wir gemeinsam Erfolg haben können. Was aus ihrer Sicht besser gemacht werden kann, wo Potential brach liegt, welche Ideen von ihnen bisher nicht aufgegriffen wurden und was wir als Erstes anpacken sollten, um die größtmögliche Wirkung für unseren Umsatz und das Geschäftsergebnis zu erzielen. Ihre entsprechenden Ideen und Vorschläge diskutieren wir dann im Team und legen die davon abzuleitenden Massnahmen und Verantwortungen entsprechend fest. Jeden Freitag ab 13:00 Uhr bei einem gemeinsamen Mittagessen, welches wir auch zur Durchsprache der abgelaufenen und zur Vorbereitung der nächsten Woche nutzen werden. Bitte richten Sie ihren Terminkalender entsprechend ein, dies ist ein Pflichttermin und hat oberste Priorität.
Damit schloss ich das Meeting und ging in mein Büro, gespannt, was passieren würde, meine Assistentin begleitete mich. Kaum hatte ich auf meinem Stuhl Platz genommen, stand sie schon in der Tür und fragte, ob ich zwei Minuten Zeit für sie hätte. Natürlich, Frau Meier (nennen wir sie einfach für einen Moment so), was kann ich für sie tun? Wegen dem Meeting an jedem Freitag antwortete sie, wie soll das ablaufen? Bisher haben wir uns nur alle 3 Monate getroffen und das Protokoll zum letzten Treffen ist noch gar nicht abgestimmt und verteilt. Und wenn ich jetzt jede Woche das Meeting vorbereiten und das Protokoll führen soll, das ist schon eine zusätzliche Belastung. Da machen Sie sich mal keine Sorgen, Frau Meier, das kriegen wir schon hin, beruhigte ich sie. Wir fangen einfach bei „Null“ an, vergessen die letzten Protokolle, schreiben auch keines mehr und vertrauen einfach auf die Einhaltung der besprochenen Vereinbarungen. Schliesslich sind wir alle erwachsen, ein kleines Team, bei dem sich jeder auf den anderen verlassen kann und auch muss. Wir brauchen dann auch keine Zeit mit unnützen Abstimmprozeduren verschwenden, sondern können uns mehr um unsere Kunden kümmern.
Mit einem großen Fragezeichen auf der Stirn verliess mich meine Assistentin und ich begann mich in meinem Büro einzurichten. Eine gute Stunde später stand dann Herr Schulze* in der Tür, die ich vorsorglich aufgelassen hatte, den Umweg über das Vorzimmerbüro hatte er sich gleich gespart. Ich bin für das Reklamationsmanagement verantwortlich, so begann er seine Vorstellung. Und ich bräuchte ihre Entscheidung bezüglich der Gutschrift an die Firma Kleindienst*, es geht um knapp 50 Euro wegen einer verspäteten Lieferung. Wenn sie ein paar Minuten Zeit haben, dann kommen Sie doch herein und trinken eine Tasse Kaffee mit mir. So meine Antwort, mit der ich Herrn Schulze sichtlich in Verlegenheit brachte, der aber dann doch in mein Büro kam und sich mit durchgedrücktem Rücken auf die äusserste Ecke des Besucherstuhls setzte.
Wie soll ich den Vorgang eigentlich seriös bewerten, ich kenne den Inhalt und das Profil des Kunden doch nicht? Wie würden Sie denn entscheiden, wenn Sie auf meinem Stuhl sitzen würden? Fragend blickte ich Herrn Schulze an und war gespannt auf seine Antwort. Mit hochrotem Kopf begann er zu erklären: Ich würde ja die Gutschrift erteilen, weil sie von der Sache her vollkommen in Ordnung ist, von dem betreffenden Kunden leider halt nur drei Tage zu spät gestellt wurde. Nach den bei uns geltenden Vorschriften müsste ich diese jetzt ablehnen, beziehungsweise habe gar keine Entscheidungsvollmacht darüber. Die Fakten dazu und meine Stellungnahme zu diesem Fall habe ich vorbereitet und extra ausgedruckt, da sie ja keine emails lesen. Sie können mir ja dann ihre Entscheidung mitteilen. Mit dieser Abschlussbemerkung legte Herr Schulze den Vorgang auf den Tisch und wollte schon gehen.
Wissen Sie was, Herr Schulze, bleiben sie doch noch ein bisschen und erzählen sie mir etwas mehr über unsere Geschäft. Sie sind doch schon viele Jahre bei unserem Unternehmen, ein ausgewiesener Fachmann, haben jede Menge Erfahrung und kennen doch bestimmt unsere Kunden ganz genau. Mit dieser Bitte, die Tasse Kaffee war jetzt auch frisch eingeschenkt, brachte ich Herrn Schulze zum weiteren Bleiben. Warum sollte ich eine Entscheidung zu Sachverhalten treffen, von denen ich keine Ahnung habe? Und wie ist das denn so mit unseren Kunden und den Reklamationen, wie haben sich diese denn in den letzten Jahren entwickelt?
Da begann Herr Schulze zu erzählen und auf meine Fragen entsprechend zu antworten. Dass aus seiner Sicht viele unserer Produkte veraltet und nicht wettbewerbsfähig seien. Das Vertriebsgebiet für die einzelnen Verkäufer zu groß wäre und die Vorgaben aus seiner Sicht unrealistisch und nicht zu erreichen. Auch, dass nach seiner Beobachtung viel zu viele (gerade auch sehr große) Kunden verloren wurden, weil man bei Reklamationen zu wenig Kulanz gezeigt hatte, zu sehr die damit verbundenen Kosten scheute und sich nach dem Vertragsabschluss einfach nicht richtig um die Kunden kümmerte. Und dass jeder im Team sein „eigenes Ding“ durchzieht, ohne großartige gegenseitige Unterstützung. Hauptsache, man macht keine eigenen Fehler und man fällt nicht negativ auf.
Hmmm, da haben wir ja jede Menge zu tun, ich danke ihnen sehr für ihre Offenheit! So leitete ich meine Antwort an Herrn Schulze ein, der jetzt schon viel entspannter und bequemer auf seinem Stuhl sass. Und wissen Sie was, mit dem „Tun“ fangen wir gleich an. Ihr Entscheidungsspielraum für Gutschriften wird auf 100 Euro erhöht, ich vertraue Ihnen, Sie werden das schon richtig machen. Und damit wir unsere Beziehungen zu unseren wichtigsten Kunden verbessern, schlage ich vor, dass Sie einmal die Woche mit einem Kollegen des Aussendienstes unterwegs sind. Das können wir dann gleich bei unserem nächsten Team-Meeting am Freitag mit den Kollegen abstimmen, was halten Sie davon? Na ja, versuchen können wir es ja mal, den ein oder anderen Ansprechpartner beim Kunden würde ich wirklich gerne auch mal persönlich kennenlernen und nicht nur am Telefon oder über die elektronische Korrespondenz. Sagte Herr Schulze, nahm seine Unterlagen und verabschiedete sich. Nicht mehr verkrampft wie am Beginn unseres Gesprächs, sondern gelöst und sogar mit einem kleinen, zufriedenen Lächeln im Gesicht.
Ich machte mir noch einige Notizen für den Freitag, es gab wirklich viel zu besprechen und zu regeln. Dann schaltete ich den Computer ein, um endlich die email meines neuen Chefs zu beantworten. Schliesslich hatte er schon drei Mal bei meiner Assistentin angerufen, ob ich denn seine Nachricht nicht erhalten hätte…
Quelle: Ernst Holzmann auf seinem Blog und im Business-Netzwerk Xing