Kommentar und Hintergrund zur Frühförderung – von Daniel Grosse:
Der Vortrag eines Neurobiologen hatte die Mutter überzeugt. Eine Kernaussage lautete, dass das muttersprachliche Zentrum durch frühes Lernen angeregt werde. Über eine Annonce fand sie dann vor rund zehn Jahren eine Spanisch-Studentin. Zugang zu fremden Sprachen sollte ihre kleine Tochter so finden. Die Kleine war damals zwei Jahre alt. Mit zwei befreundeten Müttern und deren Kindern traf sich die Runde fortan wöchentlich. Sie bastelten, sangen, Spanisch sollte so den Zweijährigen spielerisch vermittelt werden. Das war zumindest der Plan. Aber er ging nicht auf.
Der Spanisch-Unterricht hat sich nicht gelohnt, stellt die Mutter heute fest. Was war schief gelaufen? Wo doch frühe Förderung von Kleinkindern eigentlich so wichtig ist und einfach gehen könnte – meint man. Die Lösung wäre gewesen: jeden Tag lernen. Nur einfach basteln, reicht nicht. Aber ist das gesund? Für so Kleine?
Frühförderung ist nicht gleich Frühförderung
Zwei Worte in eine Internetsuchmaschine eingegeben, und nach 0,29 Sekunden findet das System 64.900 Ergebnisse. Die Suche nach „Frühförderung“ und „Kleinkinder“ liefert natürlich auch die Treffer, die sich auf Angebote für Kinder beziehen, deren Sinne oder der Körper tatsächlich beeinträchtigt sind, deren Seele oder Geist Hilfe benötigen. Aber deren Förderung ist hier nicht das Thema. Vielmehr geht es um die kleine Geige, um Mandarin, um mathematische Frühförderung zum Erlernen des Zahlenraums 0 bis 10, um Early Learning Center, aber auch um allzu verbissenes Abklappern von Pekip, Pikler, Babyschwimmen, Kinderyoga, Krabbel- und Kontaktgruppen, Kleinkindturnen zu Musik und ohne. Es geht um das, was Kindern gut tut – und um das, was Eltern befriedigt.
Ausnahme Wunderkind
Eine, die schon das Potenzial der 0- bis 2-Jährigen erkannt hat, ist Helen Doron. In ihrer „bunten Welt mit warmen Farben und bunten Materialien“, vertrauen Eltern seit knapp 30 Jahren auf die Helen Doron-Methode, ist zu lesen. „Mit ihr wenden die Kinder jeden Alters Englisch intuitiv an, ganz ohne Stress und das schulische Pauken“, schreibt sie. Und dabei sei es egal, in welchem Alter ein Kind zu ihr komme, es könne jederzeit in einen der Kurse einsteigen.
Mit dem richtigen Alter, um etwa mit dem Geige-Spielen anzufangen, beschäftigt sich Nils-Christian Engel auf seiner Seite violinorum.de und meint: „Wer sein Kind also erst im Grundschulalter zum Geigenunterricht schickt, muss kein schlechtes Gewissen haben – nicht zuletzt ist eine gute musikalische Früherziehung und viel Singen zu Hause und im Kindergarten auch als Vorbereitung für den Geigenunterricht äußerst nützlich.“ Wenn es stimmt, dass David Garrett mit drei erstmals spielte, seine erste Geige mit vier Jahren bekam, ebenso wie Hilary Hahn, oder Anne Sophie Mutter mit fünf, dann hat sich das für die Kinder heute gelohnt. Immerhin sind sie Stars geworden, berühmt und wahre Virtuosen ihres Fachs. Ob ihnen das Frühfördern bekommen ist, ihnen gut tat, bleibt fraglich. Immerhin wich David Garrett von seinem vorgezeichneten Weg zunächst ab. Mit 17 verlor er er seine Leidenschaft für die Musik. „Von einer Sinnkrise gepackt, fühlte er sich fremdbestimmt, gedrängt in ein Leben außerhalb seiner Generation“, heißt es in Medienberichten. Gegen den Willen der Eltern und seiner Plattenfirma zog er nach dem Abi nach New York. Das Ziel: eigene Wege gehen. Das Musikstudium folgte, selbst finanziert. Dort, so heißt es, erkannte er endgültig, dass er sich ein Leben ohne Geige und Musik nicht vorstellen könne.
Ein Test hilft
Geht es dort um einzelne Wunderkinder mit Ausnahmetalent, hat sich das frühe Kümmern längst schon zum Massenphänomen entwickelt. Frühförderung in jeder Form ist heute trendy. Vor allem die Vorschulkinder stehen im Fokus. Chemiekästen für Kleinkinder, Chinesisch in Kitas, Kinder-Unis für Grundschüler nennt Autor Salman Ansari beispielhaft als Mittel der Wahl und wendet sich sogleich gegen eine Akademisierung der Kindheit. „Rettet die Neugier“ lautet sein Appell und der gleichnamige Titel eines seiner Bücher. Kaum ein Elternpaar – zumindest nicht im bürgerlichen Milieu -, das seinen Nachwuchs nicht an irgendeinem Zeitpunkt in den frühen Jahren für hochbegabt und daher besonders förderungsbedürftig hielte, so Ansari. Chance und Gefahr zugleich ist, dass die Entwicklung von Kleinkindern abhängig ist von den Einstellungen, Überzeugungen und Entscheidungen der Erwachsenen, die für sie verantwortlich sind.
Zum Stichwort „naturwissenschaftliche Bildung in Kitas“ ein Test. Stellen Sie einem Kind dort Fragen wie: Brauchen Astronauten einen Raumanzug? Warum schwimmen Eisschollen auf dem Wasser? Wieso fliegt ein Ballon? Warum fällt der Mond nicht herunter? Wieso steigen Bläschen in der Limonade auf? Warum wird ein Hühnerei beim Erhitzen hart? Wenn sich schon Studenten der Physik, Chemie und Biologie im fortgeschrittenen Semester mit diesen Fragen schwer tun, wie Ansari beobachtet hat, dann fragt sich doch, was solche Fragen in der Kinderwelt zu suchen haben. Die Kleinen werden sie den Erwachsenen sicher nicht stellen, weil die Fragen schlicht keinerlei Bezug zu ihrer kindlichen Erfahrungswelt haben.
Talente durchaus fördern
Auch Psychologen fragen provokativ: Welches Motiv steckt dahinter, Kinder so früh wie möglich mit Fremdsprachen, Geigenunterricht und Malkursen zu konfrontieren? Geht es um eine Art Selbst-Schmückung mit besonderen Fähigkeiten des Kindes? Oder um die Angst, dass das Kind in unserer Leistungsgesellschaft nur mit ‚besten Voraussetzungen‘ bestehen kann? Nichts spricht wohl dagegen, wenn ein Kind in einem mehrsprachigen Umfeld die betreffenden Sprachen erlernt. Ebenso entwickeln Kinder in musikalischen, sportlichen oder anderweitig talentierten Familien schon früh ein Interesse an diesen Fertigkeiten. Allerdings sollten bei besonderen Förderbemühungen der familiäre Lebenskontext, die altersgemäßen Bedürfnisse und die Persönlichkeit des Kindes beachtet werden. Der psychologische Ansatz: Eltern sollten sich und ihr Kind nicht verbiegen. Also keine Förderung am eigentlichen Kind vorbei oder aus ’schräger‘ Motivationslage der Erziehenden.
Und Eltern sollten sich vielleicht klar machen: Die gesamte Entwicklung im Kindes- und Jugendalter ist durch enorm schnelle Veränderungen und Umbrüche gekennzeichnet. Das heißt, dass zwischen dem Entwicklungsstand von Zwei- bis Dreijährigen gegenüber Fünf- bis Sechsjährigen auf kognitiver, sozial-emotionaler sowie sprachlich-kommunikativer Ebene bereits Welten liegen.
Kraft des freien Spiels
Vielleicht hat Förderung auch etwas damit zu tun, Kinder dort zu lassen, wo sie schon sind. Weniger ist mehr. So stellen Erzieherinnen fest: Förderung ist, wenn man die Kinder annimmt, wo sie stehen. Es ist gut, jemanden anzunehmen, wie er ist. Die Bedürfnisse des Kindes seien zu achten, dazu genüge es oftmals schon, das Kind einfach „wohlwollend zu beobachten“, heißt es aus Erzieherkreisen. Dahinter steht ein zentraler Gedanke: Kleinkinder sollen spielen. Das Spiel hat einen Bildungsaspekt, der sich der Tendenz zur Verschulung und Wissensvermittlung im Kindergarten entgegenstellt.
Dazu dürfen die Kleinen das freie Spiel aber nicht verlernt haben, ab-erzogen bekommen haben. Wenn Kinder nicht mehr in der Lage sind, einfach für sich zu sein, überbehütet, verwöhnt und unengagiert sind, läuft etwas schief. Dann schwirren Helikopter-Eltern um ihre Kleinen herum, oftmals schon dem Förderwahn verfallen. Und es wird Zeit, zu fragen: Überfordern wir heutzutage unsere Kinder? Wo früher auf den Baum geklettert wurde, wird heute Frühenglisch gelernt – warum?
Das Tempo drosseln
Eltern müssen lernen, dass ihr Kind für alles seine eigene Zeit braucht. Eltern sollten dabei auf das Tempo ihres Kindes achten. Nichts zu übertreiben, scheint wichtig zu sein.
Literaturtipps:
Lasst die Kinder spielen, Herausgeber Albert Vinzens, Verlag Freies Geistesleben, 2011, 256 Seiten
Helikopter Eltern, Josef Kraus, Rowohlt Verlag, 2013, 221 Seiten
Rettet die Neugier, Salman Ansari, S. Fischer Verlag, 2013, 224 Seiten
Erkenntnisse zur Frühförderung von Kindern der Mittelschicht
Studie der Universität Freiburg:
http://www.unifr.ch/news/de/9516/